Im Studium der Theologie dürfen und sollen die von rechts und die von links her allzu munteren und naiven Geister immer neu die Entdeckung machen, dass in dieser Sache Alles doch noch ein wenig komplizierter ist, als sie es gerne haben möchten – die allzu schwermütigen und spitzfindig intellektuellen Geister aber (auch sie immer neu!) die Entdeckung, dass da Alles auch wieder sehr viel einfacher ist, als sie es mit tiefgefurchten Stirnen meinen sehen zu müssen. (K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 2006 (1962), 199f.)

Diese Erinnerung gilt wohl nicht nur für das „Studium der Theologie“, nicht einmal nur für den studierten Theologen überhaupt, sondern für jeden denkenden Christenmenschen in seinem oder ihrem Umfeld. Und für den intellektuell Veranlagten hat wahrscheinlich besonders die Mahnung „zur linken“ Bedeutung: Dass man in der Konfrontation mit der nicht selten etwas ‚unterkomplexen‘ Theologie der lieben Glaubensgenossen („Ich nehm’s halt so, wie’s da steht!“ – „Das passt halt nicht in mein Gottesbild!“ – „Aber sie hat’s doch erlebt!“) nicht die Flucht in die heillose Kompliziertheit antritt, sondern sich der Herausforderung aussetzt, das so Komplexe einfach mal einfach zu sagen…

Das Theologie-Examen ist durch und damit endlich wieder ein bisschen Zeit für die KD. In welchem Rhythmus es hier weitergeht, kann ich zwar kaum sagen, es ist aber wohl inzwischen auch nicht mehr entscheidend: Wer über neue Posts Bescheid wissen will, kann sich ja des Twitter-Accounts bedienen.

Zum Stand der Dinge: Ich stehe kurz vor dem Abschluss von KD II/1, das heißt der sog. „Eigenschaftslehre“. Dazu gehören bei Barth folgende Eigenschaften, die hier „Vollkommenheiten“ heißen:

  • Gottes Gnade und Heiligkeit
  • Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
  • Gottes Geduld und Weisheit
  • Gottes Einheit und Allgegenwart
  • Gottes Beständigkeit und Allmacht
  • Gottes Ewigkeit und Herrlichkeit
Bis zur Ewigkeit sind wir schon vorgedrungen, ist noch die Herrlichkeit offen.
Danach folgt KD II/2 mit der berühmt-berüchtigten Lehre von der Prädestination, worauf ich schon sehr gespannt bin.
Weiteres Inhaltliches folgt dann bei Gelegenheit…

Die Möglichkeit der Gebetserhörung ist ein ziemliches Problem für die Gotteslehre: Kann es sein, dass die Hand des allwissenden und selbstbestimmten Schöpfers durch das Gebet eines kurzsichtigen und beschränkten Menschen gelenkt wird? Dies ist zum einen ein Problem für die Vorsehungslehre: Weiß Gott nicht selbst am Besten, was zu tun ist? Dann aber auch für die Lehre von Gottes Gottheit, seine Selbstbestimmung und Unveränderlichkeit. Ist Gott nicht derselbe gestern, heute und in Ewigkeit? Wie sollte er seine Meinung auf Grund eines Gebetes ändern? Ist das noch „Gott“, was sich von Geschöpfen bestimmen lässt? Eine (wohl nicht selten gewählte) dogmatische Lösung besteht darin, das Thema zu ignorieren; eine andere darin, das Gebet auf demütige Dankbarkeit zu reduzieren.

Barth versucht in seiner Behandlung der Unveränderlichkeit Gottes (die bei ihm bezeichnenderweise „Beständigkeit“ heißt) beide Aspekte, die Souveränität Gottes und seine Zugewandtheit, so zu verstehen: „Es gibt auf Grund der Freiheit Gottes selbst eine Bestimmung Gottes durch das Gebet des Glaubens.“ (II/1, 574) Gott hat sich selbst in souveräner Freiheit festgelegt, derjenige Gott zu sein, der Gebete des Glaubens (die ja auch nicht wahllose Wünsche sind) erhört. Gottes Unveränderlichkeit ist also keine abstrakte Unbewegtheit und Unbeweglichkeit! Gottes Unveränderlichkeit ist seine Treue zu sich selbst – und er selbst ist eben derjenige, der sich in Jesus Christus als dem Menschen gnädig Zugewandter zu erkennen gibt. Und diesem Gott, der sich in Christus dazu bestimmt hat, Gott für uns zu sein, diesem Gott entspricht es, Gebete zu erhören.

Deshalb ist es „dem Glauben wesentlich, Glaube an den Gott zu sein, der Gebete erhört: nicht weniger als es ihm wesentlich ist, Glaube an den Gott zu sein, der uns frei erwählt und der uns eine ewige Hoffnung gegeben hat.“ (576)

Eine kurze Meldung aus dem Urlaub: Seit letzter Woche findet zum vierten Mal die sog. „Barth Blog Conference“ statt. Das Prinzip: Kurze Vorträge werden per Blogeintrag veröffentlicht, am Dialog kann sich jeder in den Kommentaren beteiligen. Was ursprünglich als Vernetzung einer studentischen Lesegruppe in Princeton begann, ist inzwischen ein vielbeachtetes wissenschaftliches Projekt; die Konferenz soll diesmal am Ende auch als Buch erscheinen. Das Thema lautet dieses Jahr: „Karl Barth in conversation with…“. In der ersten Woche wird Barth in Verbindung gebracht mit Schleiermacher, Bonhoeffer, Tillich u.a. Das Ganze findet auf Englisch statt. Hier gibt es die „Eröffnung“ der Konferenz und unter diesem Link kommen alle Beiträge herein.

Gotteserkenntnis im Sinn der neutestamentlichen Botschaft, die Erkenntnis des dreieinigen Gottes bedeutete im Gegensatz zu der ganzen religiösen Welt der ersten Jahrhunderte und sie bedeutet bis heute: radikalste Götterdämmerung. Es war nicht aus der Luft gegriffen, wenn das älteste Christentum von seiner Umwelt des Atheismus beschuldigt wurde (…). Es ist nicht ohne sachlichen Grund, wenn jede genuine Verkündigung des christlichen Glaubens bis auf diesen Tag als eine Störung, ja Zerstörung gerade des religiösen Aufschwungs, Lebens, Reichtums und Friedens empfunden wird. (II/1, 500)

Falls das Christentum auch heute noch als tendenziell „irreligiös“ wahrgenommen wird, ist mir das entgangen. Dass es zu dieser Wahrnehmung kaum noch kommt, hängt sicher mit der Entwicklung und Verbreitung der tatsächlich atheistisch-mechanistischen Weltsicht (Dawkins etc.) zusammen. Kann es aber sein, dass sich Christen als Reaktion darauf tendenziell an allem festklammern, was nach „Übernatürlichkeit“ riecht? Ist es aber tatsächlich so, dass einem die Animisten und Esoteriker jeglicher Coleur religiös näher stehen als der nüchterne Naturwissenschaftler? Hauptsache „übernatürlich“? Die christliche Erkenntnis, dass es einen Gott gibt und daneben überhaupt nur Geschöpfe weist vielleicht doch in eine andere Richtung? Die Welt wirklich Welt sein zu lassen ist womöglich ein urchristlicher Impuls…

Die Barth-Blog-Pause hat nun knappe 4 Monate gedauert. Es war wirklich einmal fällig, wie ich jetzt merke, wo ich mich langsam wieder einfinde. Wie erhofft, habe ich nun wieder Geduld und Freude an Barths langen Sätzen und endlosen Wiederholungen. Auf in die nächste Runde.

Nachdem hier gerade noch mit einem Beitrag der Anfang in der „Gotteslehre“ (KD II/1) gemacht wurde, bin ich inzwischen bei Barths Lehre von den Eigenschaften Gottes angekommen. Da es hier nie darum ging, ernsthafte Zusammenfassungen anzubieten (wer das sucht, wird ja bei Otto Weber bestens bedient), erspare ich mir eine Nacherzählung des Verpassten und springe mitten hinein in den §30 „Die Vollkommenheiten des göttlichen Liebens“.

Dabei begegnet, für mich überraschend, gerade hier eine Frage, die mich schon eine Weile beschäftigt: Sind Müssen und Dürfen für den Christen ein Widerspruch oder nicht? Ist der vom Evangelium getroffene Mensch ein radikal von jedem Anspruch und jeder Pflicht befreiter, der allein in Entsprechung zu seiner neuen Existenz (2Kor 5,17!) lebt? Der Christ „muss“ gar nichts mehr; er darf nun.

Oder ist der vom Evangelium getroffene Mensch gerade als Erneuerter und Befreiter überhaupt erst mit vollem Ernst in Anspruch genommen, weiß er sich von Gott auf eine Art und Weise in die Pflicht genommen, die ihm zuvor unbekannt war? Sein Dürfen ist auch ein Müssen?

Oder anders: Ist die Rede vom „Gehorsam“ eine, die auf die durch Christus ermöglichte Gottesbeziehung anwendbar ist, oder nicht? Können diejenigen, die nun vom Geist Gottes getrieben werden (Röm 8,1ff) noch von einem Müssen reden? Oder wissen überhaupt erst sie, wie ernst es Gott ist und sehen ihr Müssen deshalb in voller Klarheit?

Für Barth gilt ganz klar: Im Dürfen liegt auch ein neues und nun erst wirklich dringliches Sollen und Müssen. Das nimmt in seiner Gotteslehre eine bestimmte Form an: Gottes Gnade ist zugleich seine Heiligkeit. Gnade und Heiligkeit sind keine sich gegenseitig relativierenden Elemente in Gott, sondern ein und dieselbe Sache: Wo Gott sich dem Menschen in Gnade zuwendet, gerade da wendet er sich ihm auch in seiner Beanspruchung und Verpflichtung zu. Weil diese Verpflichtung für den Menschen das Gute will, deshalb ist sie in sich Gnade. Dieser Gnade entspricht beim Menschen der Gehorsam, zu dem er befreit ist.

Derselbe Gedanke drückt sich bei ihm auch in der berühmten Einheit von Evangelium und Gesetz aus; in der Tradition Luthers hingegen bilden die beiden einen unvereinbaren Widerspruch. Das führt auch dort bis hinein in die Gotteslehre, nach der Gott für uns als uneinheitlich erscheinen muss – einerseits der Gott der Gnade und Vater Jesu Christi, andererseits der verborgene Gott in seinem Zorn. Eine Einheit kann man demnach hier nicht einfach behaupten…

Nun: Wie ist zu wählen?

P.S.: Inspiration und Anschubser, hier mit Barth weiter zu machen, kamen vom werten Leser @tischusi. Vielen Dank dafür, dieses Müssen ist – jedenfalls im Augenblick – ein Dürfen.

Thorstens Frage, ob Barth denn auch gepredigt habe, inspiriert mich dazu, die gerade angekündigte Blog-Unterbrechung doch gleich noch einmal zu unterbrechen. Und zwar mit dem vielleicht schönsten Detail der Barth-Biographie, nämlich der Tatsache, dass Barth in seinen späten Jahren fast nur noch an einem Ort gepredigt hat: In der Basler Strafanstalt. Das tat er mit solcher Freude, dass es hieß, man müsse schon straffällig werden, um den Theologieprofessor noch einmal predigen zu hören.

Da er die Insassen nicht nur anpredigen, sondern kennenlernen wollte, suchte er auch den persönlichen Kontakt. Und berichtet einmal davon, wie er „heute Morgen 3 Mördern, 2 Betrügern und 1 Sittlichkeitsübertreter ausgiebig zugehört habe, kleine Anmerkungen dazwischen gestreut und jedem eine dicke Cigarre überreicht habe.“ Und gefragt hat er sich angesichts dieser Gespräche:

Sollte ich eigentlich doch so etwas wie ein Optimist oder gar eine wandelnde Darstellung der Irrlehre von der apokatastasis panton [Allversöhnung] geworden sein, daß ich nun noch keinen dieser Männer einfach kopfschüttelnd und betrübt verlassen konnte, vielmehr bei Jedem irgendetwas mich selbst Ermutigendes und Erfreuendes gesehen zu haben meinte?

Nachlesen kann man das alles in der noch immer besten und sehr lesenswerten (wie auch eigentlich fast unterhaltsamen) Barth-Biographie, nämlich der von Eberhard Busch: Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, auf Seite 430.

Nun ist es eben doch so weit: Ein KD-Pause muss her. Um dieses vorhersehbare Einknicken doch noch in ein vorteilhaftes Licht zu rücken, sei darauf hingewiesen, dass diese Pause einen noblen, nämlich theologischen Grund hat: Ich muss für ein paar Wochen Calvin statt Barth lesen. Das hat v.a. damit zu tun, dass ich demnächst meine Diplomarbeit über Calvin zu schreiben habe und mich deshalb hier jetzt etwas intensiver einlesen muss. Ich merke aber auch, dass mir ein bisschen Abwechslung gut tut. Wer Barth kennt, der weiß, das seine Stärke nicht in der Kürze und Prägnanz liegt. Ausführlichkeit und Wiederholung sind hier aller Weisheit Anfang. Das führt aber bei längerer ununterbrochener Lektüre zu gewissen Abnutzungserscheinungen. Weshalb eine Unterbrechung vielleicht auch zu neuer Frische und Aufmerksamkeit verhelfen könnte.

Barth selbst wäre mit dieser Art der Ablenkung sicher zufrieden gewesen. Über seinem Schreibtisch hingen zwei Porträts als Erinnerung an seine beiden größten Helden: Calvin und Mozart.

Bevor es hier allzu lange still bleibt: Einige unfertige (!) Gedanken im Anschluss an den Abschnitt §27.1 „Die Verborgenheit Gottes“:

Welche Rolle spielt die „Negative Theologie“ für das Verständnis der Verborgenheit Gottes? Bsp.: Postmoderne Philosophen (Achtung: totale Pauschalisierung!) zeigen die Begrenztheit menschlicher Vernunft und Erkenntnisfähigkeit radikal auf. Wirklichkeit ist Konstruktion des Subjekts (und/oder seiner ihn bedingenden Umwelt) und kann deshalb nicht den Anspruch auf letzte Wahrheit erheben. Damit aber lassen sich dann immer auch die eigenen Gottesbilder kritisieren: Sind sie letztlich nicht auch Konstruktionen unserer allzu menschlichen Interessen und Bedürfnisse? Deshalb sind sie immer wieder zu destruieren oder zumindest einzuklammern.

Barth hält diese Methode für zumindest uneindeutig. Woher kommt diese Erkenntnis der Fragwürdigkeit der eigenen Gottesbilder? Aus der negativen Theologie? Aus den durch die postmoderne Philosophie (wie schon durch die vorsokratischen Skeptiker) aufgewiesenen Aporien der menschlichen Erkenntis? Für Barth ist „die Verborgenheit Gottes die Verborgenheit Gottes; sie ist eine seiner Eigenschaften. (…) Es sind nicht Reflexionen über Raum und Zeit und über die Kategorien unseres Denkens, es sind nicht die Aporien, in die wir uns bei diesen Reflexionen verwickeln können.“ (KD II/1, 206)

Das Unvermögen Gott zu erkennen ist kein Satz der allgemeinen Vernunft, sondern ein im Nachhinein der Offenbarung festgesteller Satz über Gottes Verborgenheit.

Selbst der Gott, den wir (mystisch und postmodern) nicht erkennen, ist noch unsere Konstruktion und dieses Nicht-Erkennen eine Leistung der menschlichen Vernunft, wenn auch im Gewand ihrer eigenen Kapitulation.

Barth sucht die Wende des Denkens: Im Ergriffensein von der Offenbarung denkt man sich nicht mehr von einer allgemeinen Position (und sei es die Unerkennbarkeit Gottes) zu diesem Gott hin – man kommt her vom Gott, der geredet hat und immer wieder reden muss, damit wir nicht in eigenes, frommes oder unfrommes Palaver verfallen.

Das fromme Bejahen wie das kritische Verneinen von Gottesaussagen bleibt im Letzten unser eigenes Bejahen und Verneinen. Durchbrochen wird dieses Selbstgespräch, so Barth, erst durch Joh 1,14: „Das Wort ward Fleisch.“ Wo Gott von sich her zu uns kommt, da ist Gericht und Gnade: Gericht über alle menschliche Rede von Gott, auch die verneinende! Und Gnade über alle menschliche Rede von Gott, die sich dann als Hinweis, als Zeugnis, als Zeigen auf das Ereignis seiner Selbstoffenbarung bezieht.

Auch der Standpunkt des verzweifelten Zuschauers ist eben für den Dogmatiker wie für den Christen überhaupt ein unmöglicher Standpunkt, auch wenn er zu solcher Verzweiflung noch so viele Gründe haben sollte. (KD I/2, 904)

Der Kirche lächerliches Ungenügen vorwerfen ist leicht. Sich selbst mit hineinrechnen und nicht am Rande stehen bleiben, das ist schon schwieriger. Dieses „trotzdem“ ehrlich zu sprechen und nicht herablassend, vielleicht am schwierigsten. Wahrscheinlich geht es nur, wenn man gelernt hat, auch über sich selbst und seine Theologie gründlich zu lachen…